GILLIAN
WHITE




DAS PHAENOMEN GILLIE


Ein Text von Erica Pedretti




Neben ihrer riesigen Skulptur scheint die Künstlerin sehr klein. Eine Engländerin, ja, eine englische Schweizerin, nicht nur ihr Deutsch und Schweizerdeutsch tönen englisch, sie sieht auch englisch aus, trotz ihres auffallenden Lockenkopfes.

Hörst Du sie lachen? Ein herzliches, wie eine Quelle aus dem Innern tönendes Lachen, ein Wasserfall.

Ihr grosses Atelier, eher eine Werkhalle, ist mit Skulpturen, meist Eisenplastiken, gefüllt, mit Entwürfen, Modellen, Zeichnungen und Bildern, und was drin keinen Platz hat, drängt sich auf dem Hof, wird teilweise bereits von Pflanzen überwuchert. Viele ihrer Skulpturen stehen im öffentlichen Raum, und wie viele bei den Sammlern? Sie zeichnet und malt oft in einem weiteren Atelier im Estrich über ihrer Wohnung. Ein beeindruckendes Oevre. Auch im Ausstellungsgelände legt sie immer wieder Hand an, und freundlich und bestimmt zeigt sie ihren Helfern, wie die verschiedenen grossen und schweren Teile der Plastik zusammen- und aufgestellt werden.

Wie schafft sie das nur, diese sehr weiblich wirkende Person, wie bringt sie diese Schwerstarbeit zustande?

Gillian White ist drei Jahre alt, als ihre Familie 1942 in der Nähe von Reading ein Haus bezieht. Das haben die Eltern aus drei verfallenen cottages aufgebaut, mit einem Zweitaktmotor selbst Strom produziert, sie haben täglich einen Kilometer weit weg Wasser holen müssen, das nächste Dorf war vier Kilometer entfernt. Die Eltern sind begeisterte Gärtner, vor allem die Mutter pflegt den wunderschönen Garten. Bis sie Gicht bekommt. So verkaufen sie ihr Haus 1958 und siedeln in die Nähe von London, wo der Vater im Ministerium für Transport arbeitet. Oft besucht Gillie auch die Grosseltern mütterlicherseits in ihrem grossen Farmhaus nahe Oxford, in dem im Krieg viele Städter Schutz vor den Bomben gesucht hatten.

Mit zehn Jahren geht sie, wie zuvor schon ihre sechs Jahre ältere Schwester, ins Internat der Elmhurst School of Ballet in Camberley. Das bedeutet dreimal tägliche eine Stunde Ballettunterricht – bis die Füsse streiken. Nur ihre Schwester wird Tänzerin. Mit fünfzehn muss Gillian das Tanzen aufgeben, da sind die Füsse, sie habe sehr feine Knochen, kaputt. Sie kommt für ein Jahr ins College. Aber Gillie will Kunst studieren, Kunst, nichts anderes, und sie ist nicht die Erste in der Familie: Ihre Grossmutter mütterlicherseits ist Bildhauerin gewesen, eine Grosstante Keramikerin. Doch der liebe Vater sagt Nein!

Also wird sie arbeiten. Sie wird frühmorgens in der Wigmore Street einem Zahnarzt Frühstück machen und es ans Bett servieren, sie wird für einen King-Kong-Film kleine Figuren aus Kautschuk modellieren oder als Statistin in Otto Premingers Fil Sait Joan (Nach George Bernard Shaw) mitspielen, und sie wird in den Sommerferien Schmuck emaillieren. Das alles neben der Schule, der St Martin's School of Arts.

1960 geht sie auf eigene Faust nach Paris, zur Freude der Grossmutter aus Caen. Gillie folgt nochmals der Familientradition: Schon der Grossvater ihres Vaters ist aus Irland nach Frankreich durchgebrannt. Dort besucht sie die Ecole Nationale des Beaux-Arts. Und wieder muß sie ihr Studium als Haushaltshilfe einer grossen Familie und mit Englischstunden selbst verdienen.

Auch Albert Siegenthaler kommt, etwas später, zum Kunststudium nach Paris. Die beiden verlieben sich, 1962 heiraten sie und studieren gemeinsam weiter an der gleichen Schule. Bis sie im Herbst 1963 nach London ziehen. Dort finden sie eine billige Wohnung und auch Arbeit, sogar interessante Arbeit, bei der Restaurierung der Westminster Abbey. Guy kommt zur Welt, 1964, und 1966 Johanna. Jahrelang werden die Kinder liebevolle mütterliche Zuwendung und Betreuung bekommen. So lebt das Paar die ersten gemeinsamen fünf Jahre glücklich in Paris und in London, wo Albert ein Stipendium des British Council erhält. Doch nach drei Jahren muss er in die Schweiz zurück.

Sie übersiedeln 1966 in den Aargau, wohnen dort zuerst bei den Schwiegereltern, dann beim Schwager in Stilli. Nach dem Tod ihres Vaters, 1972, kann Gillian das Elternhaus verkaufen und, mit ihrem Anteil als Anzahlung, das Haus in Leibstadt kaufen, in dem sie heute noch lebt.

Daran wird erst nur wenig geändert, es geht den beiden jungen Künstlern vor allem um ein grosses Atelier. Das bauen sie selbst, so wie es einmal Gillies Eltern gemacht haben: Nicht nur die Wände der Wohnung tünchen sie, sie mauern, pflastern den Boden, Karrette um Karrette voller Steine muss angeschleppt werden, auch das Dach machen sie selbst. Nur hie und da hilft ein Maurer an den Wochenenden.

Im neuen Atelier mit seinem Kran und allen Einrichtungen werden nun grosse und immer grössere Werke möglich, meist Plastiken aus Cortenstahl, einer Legierung mit Kupfer, Phosphor und Silizium, die nur an der Oberfläche rostet. „Der Rost schützt, darunter sollte es nicht weitterrosten“, sagt Gillie „aber ich glaube nicht, dass die Arbeit so alt wird wie eine griechische Skulptur.“


Bald einmal haben sie auch den einen oder anderen Wettbewerb gewonnen, leben von der Anzahlung bei Beginn, „und am Ende der Arbeit hatten wir nichts mehr“. So unterrichtet Gillie, da sind die beiden Kinder in der Schule, und Albert ist bereits krank. Sie gibt einmal wöchentlich Kunststunden am Oberseminar Rämistrasse, das hilft der Familie eine Zeit lang über die Runden. Der grosse Coup gelingt ihnen mit einem Wettbewerb in Lausanne, aber Albert ist zu krank, und erst zehn Jahre später kann Gillie die Skulptur ausführen.


An der Plastikausstellung 1980 in Biel begegnete ich Gillian White und Albert Siegenthaler zum ersten Mal. Wir gingen aufeinander zu, betrachteten eingehend unsere Arbeiten. Ihre Plastik Paradise Lost, ein riesiger Kreis, war beeindruckend. Welche Teile waren Gillies? Das Nordtor. Welche von Albert? Das Südtor. Am Ost- und Westtor hatten die beiden gemeinsam gearbeitet. Paradise Lost,

Zwei Jahre später freundeten wir uns bei der Arbeit zur Ausstellung Kunst und Natur in Lenzburg an. Und beim nächsten Wiedersehen, an einem Plastiksymposium in Lindau, da ging es Albert, obwohl er versuchte, es sich nicht anmerken zu lassen, schon so schlecht, dass er nur in Gillies Begleitung teilnehmen konnte. Doch die Gespräche waren unsentimental, lebhaft, oft leidenschaftlich. Jahre-, jahrzehntelang habe ich in den Schafskefir, den sie mir zur Bekämpfung meiner Krebserkrankung geschickt haben, weitergezüchtet und täglich gegessen. Albert selbst half der Kefir leider nicht mehr lange.


Seither ist ein Vierteljahrhundert vergangen. Gillies blonder Lockenkopf ist grau geworden, „silbrig“, korrigiert sie lachend, ihr Lachen, ich kenne kein herzlicheres Lachen, ist gleich geblieben: „Wahrscheinlich stammen meine Chrüseli aus Marokko, ich glaube, da hat sich mal, vor langem, eine Vorfahrin in einen Afrikaner verliebt.“

Spätestens alle drei Jahre sehen wir uns bei unseren Arbeiten in der Ausstellung von Bex et Artswieder, sei es zwischen den bizarren, aus jedem Blickwinkel tänzerisch sich verändernden Formen von Accordez-moi cette danse(2002) oder bei den Rhythmisch angeordneten Elementen des Shaftvon 2005. Was wird sie dieses Jahr zeigen? Und manchmal treffe ich sie auch zwischendurch, die kollegialste aller Künstlerinnen. Sie denkt an dich sie schlägt immer wieder Kolleginnen oder Kollegen für Wettbewerbe und Ausstellungen vor.

Unermüdlich arbeitend, hat sie eine traurige, eine furchtbare Zeit überstanden und, ohne zu verbittern, hinter sich gelassen. Sie hat es verstanden, trotz Widerständen und etlichen Anfeindungen, standhaft und passioniert bei ihrer Sache zu bleiben und sich und ihre Kunst von einer Arb eit zur nächsten weiterzuentwickeln.

Hörst Du sie lachen? Wie ein Wasserfall, dieses herzliche fröhliche Lachen, das so viel von Gillie aufzeigt.



(Text: Erica Pedretti, aus: Gillian White: Tanz in Eisen. Werke aus 40 Jahren / Dance in Steel. 40 Years' Work. Hrsg. v. Sabine Altorfer, Uli Däster, Jochen Hesse. 2009. 165 S. m. 160 Farb- u. SW-Abb. 26,5 x 30 cm. Verlag/Jahr: SCHEIDEGGER & SPIESS 2009. ISBN: 3-85881-251-X )



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